Keine Haftung des Unfallversicherungsträgers für Operation am Erstbehandlungstag


Neues zur „D-Arzt-Haftung“ der Berufsgenossenschaft

Endlich dürfen wir über etwas neues vom BGH zur Frage der Passivlegitimation des Unfallversicherungsträgers bei Behandlungsfehlern berichten. Der BGH hat mit Urteil vom 30.07.2024 – VI ZR 115/22 seine Rechtsprechung zur Passivlegitimation der Unfallversicherungsträger für die durchgangsärztliche Behandlung weiter präzisiert und entschieden, dass ein Unfallversicherungsträger auch dann nicht für eine operative Versorgung einer Unfallverletzung haftet, selbst wenn der behandelnde Arzt die Operation im Durchgangsarztbericht im Feld „Art der Erstversorgung“ einträgt. Was zur Erstversorgung zählt, steht nicht zur freien Disposition des behandelnden Arztes.

Wir durften unsere Mandantin, eine Unfallkasse, welche der Streit verkündet wurde, in diesem Verfahren begleiten und so direkt mit unseren BGH-Anwälten zur für die Unfallversicherungsträger durchaus positiven Rechtsfortbildung beitragen.

Sachverhalt

Eine Klägerin, die sich bei einem Sturz auf dem Schulhof den Unterarm gebrochen hatte, begehrte vor dem Landgericht von der dort beklagten Klinik Schadensersatz, insbesondere Schmerzensgeld, da sie der Auffassung war, die operative Versorgung sei nicht fachgerecht ausgeführt worden. Nach der durchgeführten Beweisaufnahme wies das Landgericht die Klage mangels festgestellten Behandlungsfehler ab.

Hiergegen legte die Klägerin Berufung zum OLG München ein und rügte Mängel im Sachverständigengutachten und in der Beweiswürdigung. Das OLG München wies in seiner Entscheidung vom 18.03.2022 – 24 U 6398/21 die Berufung zurück, ohne sich mit den Einwänden überhaupt zu befassen. Es war nämlich der Auffassung, dass die beklagte Klinik schon  gar nicht passivlegitimiert sei. Grund hierfür sei, dass der behandelnde Arzt im Durchgangsarztbericht unter „Art der Erstversorgung“ (unstreitig) unter anderem folgendes niedergelegt hatte: „Geschlossene Reposition und K-Draht am 20.6.2012“

Dies nahm das OLG München zum Anlass, auch diese operative Versorgung der durchgangsärztlichen Erstversorgung (für welche nach Urteil des BGH vom 29.11.2016 – VI ZR 208/15 die Unfallversicherungsträger passivlegitimiert sind) zuzuordnen. Das OLG München war der Auffassung, dass die Frage, ob eine bestimmte Behandlung als Erstbehandlung durch den Durchgangsarzt zu bewerten sei, sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nach der Dokumentation im jeweiligen Durchgangsarztbericht richte.

Schon beim erstmaligen Lesen dieser Entscheidung durfte man in diesem Fall zu Recht an der Begründung zweifeln, denn dies hat der BGH so nie entschieden. Als der BGH Ende des Jahres 2016 sich von der „Janusköpfigkeit des durchgangsärztlichen Handelns“ verabschiedete, ordnete er die Erstversorgung der Haftungssphäre der Berufsgenossenschaften zu. Die Behandlungsmaßnahmen nach Abschluss der Erstversorgung  – und die Erstversorgung ist abgeschlossen mit der Entscheidung über die Art der Heilbehandlung – unterfallen hingegen nicht der Haftungssphäre der Berufsgenossenschaft. Dies stellte der BGH in seiner Entscheidung vom 10.03.2020 – VI ZR 281/19 insbesondere für die „Besondere Heilbehandlung“ auch nochmals klar. Der Dokumentation des Durchgangsarztes wird hier natürlich eine Indizwirkung zugesprochen. Dass aber die Frage, was  Erstversorgung und was Inbegriff der anschließenden Heilbehandlung ist, allein von der Dokumentation im Durchgangsarztbericht und damit im Ergebnis vom Willen des Behandlers abhängt, konnte unseres Erachtens aus den maßgeblichen BGH-Urteilen nicht herausgelesen werden. Dies wäre auch bedenklich, so wäre die rechtliche Beurteilung  der Passivlegitimation ja von einer (letztendlich ggf. willkürlichen) Dokumentation des Behandlers abhängig.

Spannend war, dass das OLG München in diesem Fall noch nicht einmal die Revision zugelassen hat, obwohl es sich bei dieser Auslegung durchaus um eine Grundsatzfrage handelte. So sah dies auch der BGH, welcher der hierauf erhobenen Nichtzulassungsbeschwerde stattgab.

Entscheidung des BGH vom 30.07.2024 – VI ZR 115/22

Nach Fortgang des Verfahrens fiel nun am 30.07.2024 das Urteil in dieser Sache, welches sich durchaus lesenswert und lehrreich mit dem Begriff der Erstversorgung durch den Durchgangsarzt und der Bedeutung der Eintragungen im Durchgangsarztbericht bei der Bestimmung der Passivlegitimation auseinandersetzt. Besonders wesentlich dürften hierbei zunächst die Ausführungen in Tz. 14 bis 16 sein. Dort heißt es:

Das Berufungsgericht hat aber den Begriff der „Erstversorgung“ rechtsfehlerhaft verkannt und darüber hinaus den Eintragungen des Arztes im Durchgangsarztbericht für die Qualifizierung der streitgegenständlichen Maßnahmen hier zu Unrecht eine maßgebliche Bedeutung zugesprochen.

Die Erstversorgung wird in § 27 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII als Teil der Heilbehandlung genannt. In § 9 des gemäß § 34 Abs. 3 SGB VII abgeschlossenen Vertrages Ärzte/Unfallversicherungsträger wird ausgeführt, dass die Erstversorgung die ärztlichen Leistungen umfasst, die den Rahmen des sofort Notwendigen nicht überschreiten. Die Erstversorgung ist von der durch den Unternehmer zu erbringenden Ersten Hilfe (§§ 14 Abs. 1, 15 Abs. 1 Nr. 5 SGB VII) abzugrenzen[…].

Maßnahmen der Erstversorgung können je nach Fallkonstellation auch (nur) vom  Durchgangsarzt selbst erbracht werden. So gehen die Arbeitshinweise für den Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger ganz selbstverständlich von vom Durchgangsarzt im Rahmen der Erstversorgung durchgeführten Behandlungsmaßnahmen wie z.B. Wundversorgung, Verbände und Injektionen aus […].

Die der öffentlich-rechtlichen Amtsausübung des Durchgangsarztes zuzuordnende Erstversorgung findet regelmäßig zeitlich vor dessen Entscheidung über die Art der Heilbehandlung statt. Davon zu unterscheiden sind Maßnahmen, die zeitlich nach und in Vollzug der Entscheidung über die Art der Heilbehandlung durchgeführt werden und grundsätzlich als privatrechtliches Handeln des Durchgangsarztes zu qualifizieren sind.“

[Herv. d. d. U.]

Wirklich spannend wird es dann in den Tz. 21 ff., in welchem sich mit der Hauptargumentation des OLG München auseinandergesetzt wird. Dort heißt es:

„Anderes ergibt sich auch nicht aus der Eintragung im Durchgangsarztbericht, die die Operation in dem Textfeld „Art der Erstversorgung (durch den D-Arzt)“ und in dem Textfeld „Art der Heilbehandlung“ lediglich „durch mich“ und „besondere Heilbehandlung“ „stationär“ ausweist.

Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 29. November 2016 (VI ZR 208/15, BGHZ 213, 120 Rn. 28) zwar darauf hingewiesen, dass die Dokumentation der Erstversorgung durch den Durchgangsarzt bei der Abgrenzung zwischen öffentlich-rechtlichem und privatrechtlichem Handeln helfen kann. Er hat weiter ausgeführt, dass der Durchgangsarzt mit der im Durchgangsarztbericht dokumentierten Entscheidung für die besondere Heilbehandlung die Zäsur zwischen seinen hoheitlichen Pflichten und dem anschließenden privatrechtlichen Behandlungsverhältnis schafft. Die wesentliche Entscheidung zur Erfüllung der Steuerungsfunktion des Durchgangsarztes ist gemäß § 27 Abs. 1 des Vertrages Ärzte/Unfallversicherungsträger an dieser Schnittstelle angesiedelt, an der über die Durchführung einer allgemeinen Heilbehandlung, die Einleitung der besonderen Heilbehandlung oder die Ablehnung einer Heilbehandlung zu Lasten des Unfallversicherungsträgers zu entscheiden ist (vgl. Senatsurteil vom 10. März 2020 – VI ZR 281/19, MedR 2020, 1026 Rn. 22). Daran, dass der Durchgangsarztbericht Anhaltspunkte zur nachträglichen Ermittlung dieser Zäsur liefern kann, hält der Senat fest. Hier soll auch nicht der fachliche Entscheidungsprozess des Durchgangsarztes reguliert werden. Er soll im Rahmen des Vertrages Ärzte/Unfallversicherungsträger alle Maßnahmen durchführen können, die zur Vorbereitung der Entscheidung über die Art der Heilbehandlung aus medizinischer Sicht notwendig sind, auch die Maßnahmen der Erstversorgung, die aus medizinischen Gründen sofort notwendig sind, um den Patienten während dieses Prozesses vor einer Verschlechterung seines Gesundheitszustandes zu bewahren, und er wird hier regelmäßig einen Ermessensspielraum im Fachlichen haben.

Das bedeutet aber nicht, dass der Zeitpunkt dieser Entscheidung und die Beantwortung der Frage, welche Maßnahmen noch der Vorbereitung der Entscheidung dienen und/oder noch der Erstversorgung zuzurechnen sind, zur freien Disposition des Durchgangsarztes stehen. Dies und die damit verbundene Entscheidung, wann die Ausübung seines öffentlichen Amtes endet, stehen nicht in seinem Belieben. Die zu treffende und dann dokumentierte Entscheidung muss sich vertretbar an den Kategorien Erstversorgung (§ 9 Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger), allgemeine Heilbehandlung (§ 10 Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger) und besondere Heilbehandlung (§ 12 Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger) orientieren. Eine mögliche Indizwirkung des Durchgangsarztberichtes für die Beantwortung der Frage, welche Maßnahmen noch im Vorbereitungsstadium erfolgten, entfällt, wenn die Zuordnung zu den aufgezeigten Kategorien beliebig oder willkürlich erscheint.

Gemessen daran erscheint im Streitfall die Zuordnung der Operation (und ihrer Aufklärungen) zur Erstversorgung trotz der Entscheidung für eine besondere Heilbehandlung stationär nicht mehr vertretbar. Der Durchgangsarzt hat im Entscheidungsprozess für die Weichenstellung zur Art der Heilbehandlung offenkundig den Begriff der Erstversorgung verkannt und ihm Maßnahmen zugeordnet, die zu der besonderen Heilbehandlung gehören und die sich hier faktisch bereits als Vollzug einer zuvor konkludent getroffenen, aber nicht offengelegten Entscheidung für die besondere Heilbehandlung darstellen.

[Herv. d. d. U.]

Fazit und Ausblick

Hiernach muss sich nun also das OLG München erneut mit der Sache (und den Einwendungen der Klägerin) befassen. Unsere Mandantin ist in keinem Fall für die behaupteten Behandlungsfehler passivlegitimiert.

Wir begrüßen diese Entscheidung ausdrücklich, da es eben nicht – wie das OLG München wohl annahm – ein Einzelfall ist, dass Gerichte den Begriff der Erstversorgung überspannen und hier auch Operationen (teilweise auch noch an späteren Tagen) der Haftungssphäre der Berufsgenossenschaft zuordnen möchten.

Damit dürfte nun ein bisschen mehr Klarheit in die Fälle gebracht worden sein, in welchen seit Ende 2016 nach wie vor Unklarheiten bei der Passivlegitimation für (behauptete) durchgangsärztliche Fehlbehandlungen bestehen.

Die Entscheidung ist über die Website des BGH hier abrufbar.